14 Oktober 2008

Marcel Reich-Ranicki

Also ich verstehe diesen Mann nun wirklich nicht. Was ist denn an unserem Fernsehprogramm heutzutage schlecht? Werden wir nicht alle zu Juristen, wenn wir Barbara Salesch dabei zusehen, wie sie halbprofessionelle Schauspieler in den Knast schickt? Und wenn wir dem neuen Auswanderer-Coach auf kabel eins zuhören, sind wir dann nicht fürs Leben gewappnet? Inspiriert das perfekte Dinner anderer uns nicht, unseren Lebensstil und unsere Esskultur in Frage zu stellen? Und wenn wir Jumbo Schlag-mich-tot-wie-er-weiter-heißt beim Essen eines gigantischen Schnitzels zusehen, bewundern wir da nicht seine Tatkraft und seine Aufnahmefähigkeit? Klar, als uns Galileo noch vor einigen Jahren nur jeden dritten Abend erklärt hat, wie unsere Lieblingswaffeln hergestellt werden, da haben wir natürlich ein etwas breiteres Spektrum an Populärwissen nähergebracht bekommen. Aber muss sich nicht jeder, selbst der kleinste Student, irgendwann einmal spezialisieren? Und es ist ja nicht so, als ob man jeden Beitrag schon einmal gesehen hätte, selbst wenn man nur alle zwei Wochen aus Versehen einmal reinschaltet. Am innovativsten finde ich jedoch "Die Wahrheit - nichts als die Wahrheit". Das sind wahre Emotionen, der Mensch in seiner Urform. Meint ihr, dass das weniger gebildete Publikum sich jemals über die Notwendigkeit vom Lügen in der Gesellschaft Gedanken gemacht hat? Vielleicht denken sie beim nächsten Mal, wenn sie ihren besten Freund anlügen nicht: Oh, lügen ist böse! Vielleicht denken sie: Wenn ich nicht so taktvoll lügen würde, er wäre wahrscheinlich den Tränen nahe. Das ist es, was Fernsehen macht: es versöhnt uns mit unseren eigenen Unzulänglichkeiten.

Erinnert ihr euch noch an die erste Staffel von "Big Brother"? Als das noch als ein sozialanalytisches Projekt gehandelt wurde? Bevor Tine Wittler oder einer ihrer anderen "Home-Improvement"-Kollegen Hand angelegt hat? Um den Menschen, die dort einziehen ein ähnlich schönes Heim bereit zu stellen wie sie es zurücklassen? Da waren auch ein paar Akademiker dabei! Typen mit Niveau! Aber wer will die sehen? Wir sind doch so schon unzufrieden genug! Also wurden sie bei erster sich bietender Gelegenheit rausgewählt. Nein, ich verstehe diesen Reich-Ranicki wirklich nicht. Es ist nicht das Fernsehen - es ist das Publikum, dem er sich nicht verbunden fühlt.

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