09 November 2008

In einer kleinen Stadt

Rainald Grebe hat in seinem Lied "Brandenburg" ziemlich treffend beschrieben, was man über dieses Bundesland rund um unsere Hauptstadt wissen muss. Nun ja, und dort bin ich aufgewachsen. In einer kleinen Stadt in der Prignitz.

Nach dem Kaffee wollte ich eigentlich nur die Dämmerung fotografieren- doch sind meine Füße einmal in Bewegung, können sie nicht mehr aufhören. Dann ist ihnen auch egal, ob ich zu meinem Rock lediglich Kniestrümpfe trage oder die Frage, ob eine dünne Strickjacke auch im Herbst genügend Wärme spendet. Sie laufen einfach weiter.

Kaum war ich unterwegs, als mich auch schon die Nostalgie gepackt hat. Als erstes bin ich zu dem Haus gelaufen, in das meine Eltern nach meiner Geburt gezogen sind. Heute ist es sehr heruntergekommen und das einzige Haus in der Straße, das zu marode ist zum Begehen. Also bin ich weiter. Vorbei am Kulturhaus, wo ich mein Abiturzeugnis überreicht bekommen habe. Vorbei an der Bibliothek, in der ich während meiner Schulzeit den halben Nachmittag verbracht habe. Vorbei an meinem Gymnasium, wo ich soviel Spaß hatte, aber auch oft sehr unglücklich war.

Ich bin zum alten Kastanienplatz gelaufen, wo ich zu Kindergeburtstagen mit meinen Freunden Sackhüpfen gespielt habe- oder Eierlauf. In der Nähe waren die Plattenbauten, in denen ich aufgewachsen bin, kurz nachdem meine kleine Schwester geboren war. Im Zentrum dieser Siedlung habe ich Skaten gelernt, habe ich meinen ersten "Todessalto" bewältigt, haben wir "Bandenkriege" zwischen Jungs und Mädchen ausgetragen. Dort ist mein Wellensittich gestorben, den ich nicht betrauern konnte, weil ich meine Schwester und meine Mutter trösten musste. Kurz bevor diese Siedlung zu einem Ghetto verkommen ist, sind meine Eltern mit meiner Schwester und mir weggezogen. Vor einigen Jahren wurden die Häuser schließlich eingeebnet.

Dann war ich bei meiner alten Grundschule. Wo ich einen Rekord im fehlerfreien Lesen englischer Texte aufgestellt habe. Wo ich dem Bösewicht der Klasse eine Abreibung verpasst habe, die er gewiss bis heute nicht vergessen hat. Wo ich meine Liebe zur Kunst entdeckt habe. Und wo mittlerweile höchstens die Hälfte der Klassenräume benutzt werden und die Realschule nebenan schon längst abgerissen wurde- wie, um der Grundschule ihre Zukunft vorherzusagen.

Zurück zu Hause war ich ziemlich traurig. Man fühlt sich doch ziemlich entwurzelt, wenn vieles, was einem vertraut ist, verschwunden ist. Meine Eltern belagern zusammen mit einigen anderen Familien zwar noch das Wohnhaus, in dem wir seit meiner Grundschulzeit zusammen gelebt haben – aber wie lange noch? Irgendwann verschwindet auch das. Die Jugend wandert ab, das Alter stirbt aus, und zurück bleibt eine Geisterstadt, deren alter Glanz schon vor langer Zeit vergessen wurde. Deswegen hasse ich es, nach Hause zurückzukommen. Weil ich eigentlich immer unglücklich abreise.

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